Der Schweizer Strommarkt erlebt die grösste Veränderung in seiner Geschichte: Liberalisierung, Preisgestaltung, Vergrösserung des Angebots. Dazu kommt die dringend notwendige Modernisierung der Infrastruktur. Diese äusseren Faktoren haben bereits zu vielen Fusionen von Stromversorgern geführt und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.
Dieser Artikel wurde am Dienstag, 30. August 2022 auf www.bulletin.ch publiziert.
Der Umbruch auf dem Schweizer Strommarkt ist ein grosser, aber auch ein langsamer: Vor über 20 Jahren wurde die Liberalisierung beschlossen – ganz umgesetzt ist sie noch immer nicht.
Traditionell ist die Schweiz der Stromproduktion gegenüber positiv eingestellt. Das weltweit erste Kraft- werk, das Strom an Dritte lieferte, wurde 1886 im luzernischen Littau in Betrieb genommen. Ab 1893 versorgte ein Flusskraftwerk die Stadt Zürich mit Strom. In der Folge entstanden in der ganzen Schweiz Kraftwerke, häufig in den Händen lokaler Betreibergesellschaften. 1910 zählte man 7000 Kleinwasserkraftwerke. 1980 wies die Schweiz 1200 Elektrizitätswerke für die allgemeine Versorgung auf und 80, die Strom für Bahnen und Industrie produzierten.
Diese kleinteilige Struktur erweist sich seit einigen Jahren als nicht mehr geeignet. Die Handelszeitung schrieb 2019: «Es gibt hierzulande zu viele, zu kleine Stromversorger. Eine Konsolidierung tut not.»
Neue Anforderungen durch Liberalisierung
Bislang profitierten viele Betriebe vom Monopol, über das sie in ihrem Gebiet verfügten: Wer Strom brauchte, bezog ihn beim nächstgelegenen Versorger – und bezahlte den Preis, den dieser verlangte. Mit der Liberalisierung des Schweizer Strommarktes und dem Scheitern der Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen mit der EU im Frühling 2021 sind viele Anbieter unter Zugzwang geraten.
Weil die Stromimportkapazitäten aus Nachbarländern der Schweiz nicht gesichert sind, muss die erneuerbare Stromproduktion forciert werden. Im Sommer 2021 hat der Bundesrat entsprechende Anpassungen der «Energiestrategie 2050» kommuniziert. Zusätzlich produzieren mehr und mehr Privathaushalte selbst Strom und speisen diesen in das Netz ein. Die Stromanbieter müssen eine Lösung finden.
Die Netze sind für den Betrieb in eine Richtung ausgelegt: Der Versorger liefert Strom in die Haushalte. Die Einspeisung von Strom Privater ins Netz dürfte aber zunehmen. Für die Stromversorger bedeutet dies Investitionen in die Netz-Infrastruktur sowie in die Digitalisierung.
Modernisierung bringt neue Struktur
Diese Investitionen sind notwendig, wenn ein Stromversorger weiterhin selbstständig bleiben will. Smart Meter beispielsweise erlauben auf der einen Seite die Kontrolle in Echtzeit über den Stromverbrauch. Auf der anderen Seite lassen sich damit Kosten sparen durch Planung des Strombedarfs und durch weniger Aufwand: Die Daten werden online übertragen und müssen nicht mehr in den Haushalten abgelesen werden. Die Digitalisierung ermöglicht auch, mehr administrative Arbeit in der Kundenbeziehung in kürzerer Zeit zu erledigen.
Die Technologie, um den Modernisierungsschritt zu vollziehen, ist vorhanden. Doch die Umsetzung vor Ort stellt eine Schwierigkeit dar. Die Stromversorgung findet häufig auf Gemeindeebene statt. Die mit der Modernisierung des Netzes und dem Ausbau des Angebots verbundenen Investitionen können viele Betreiber aufgrund ihrer Grösse nicht finanzieren. Sie operieren zudem mit zu wenig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die neuen Herausforderungen.
In dieser Situation befinden sich heute viele kleine und mittlere Stromversorger. Die Liberalisierung des Strommarkts bietet ihnen aber auch die Chance, sich neu aufzustellen und im Zusammenschluss mit anderen Betrieben die Grundlagen für eine selbstständige Zukunft zu schaffen.
Mehr Möglichkeiten durch Liberalisierung
Durch die Liberalisierung profitieren seit 2009 Grosskunden mit einem Ver- brauch von über 100000 kWh pro Jahr von der freien Wahl des Stromlieferanten. Für kleinere Verbraucher und Privathaushalte ist diese Wahl noch nicht möglich.
Es sei denn, sie bilden Energie-Gemeinschaften. Die kleinen Abnehmer schliessen sich zu einer Gruppe zusammen, die insgesamt mehr als 100 000 kWh Strom pro Jahr bezieht – und dadurch als Grosskunde gilt. Der Vorteil für die Stromverbraucher ist, dass solche Grosskunden freien Zugang zum Strommarkt haben und somit den Anbieter mit dem günstigsten Tarif oder dem besten Strommix aussuchen können.
Grösserer Spielraum für kleine Anbieter
Die Stromversorger wiederum haben mit der Liberalisierung eine Aufweichung der gesetzlichen Rahmenbedingungen erlebt. Fusionen und Kooperationen über Gemeindegrenzen hinweg sind möglich – das erhöht den Spielraum für kleine Anbieter.
Denn mittelfristig sind Investitionen in Netz- und IT-Infrastruktur nötig. Viele Betriebe müssen ihre Anlagen modernisieren. Experten gehen davon aus, dass ein Betrieb 25 000 bis 30000 Haushalte mit Energieträgern und Telekommunikation beliefern muss, um die Investitionen tragen zu können. Liefert er ausschliesslich Strom, gehen Experten gar von 30000 bis 40000 Haushalten aus.
Für Fusion bewährte Partner wählen
Für Versorger ausserhalb der städtischen Zentren bedeutet dies, nach Partnern suchen zu müssen. Als trag- fähig haben sich Kooperationen mit regionalen Partnern erwiesen – am besten solche, mit denen bereits eine Zusammenarbeit besteht. Das lässt sich am Beispiel der vier regionalen Energie- und Wasserwerke in den Aargauer Gemeinden Aarburg, Oftringen, Rothrist und Zofingen zeigen. Die strategisch Verantwortlichen der vier Werke haben sich entschlossen, eine Fusion zu einem regionalen Unternehmen zu prüfen.
Die Verwaltungsräte der vier Werke sowie die Stadt- und Gemeinderäte als Aktionärsvertreter stehen hinter dem Entscheid. Denn gerade auf kommunaler Ebene haben solche Prozesse auch eine politische Dimension: Kommunen sind an den Stromversorgern beteiligt, und die Dividenden sowie Konzessionsabgaben machen bis zu 10 % kommunaler Budgets aus. Vor- aussichtlich im Jahr 2023 werden die Stimmberechtigten der beteiligten Gemeinden über die Fusion in letzter Instanz abstimmen.
Die Verantwortlichen hinter der Fusion sind überzeugt, dass sie die Herausforderungen der Strommarktliberalisierung – neue Geschäftsmodelle, Modernisierung – nur als grösseres Unternehmen erfolgreich meistern können.
Quartierstrom: Idee mit Zukunft
Der Strommarkt ist dynamisch, und die Entwicklungen sind vielfältig. Versorger wie das Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt (WEW) wollen Schritt halten. WEW ist Teil eines Feldversuchs, bei dem in einem Wohnquartier Personen mit Photovoltaikanlagen
Strom ins Netz speisen, den ihre Nachbarn beziehen können. Verschiedene Schweizer Hochschulen begleiten das Projekt. Herzstück der «Quartierstrom»-Idee sind die Strom-Prosumenten. Dabei handelt es sich um Personen und Haushalte, die tagsüber mit ihren Photovoltaik-Anlagen Strom produzieren und die nicht benötigte Energie in das Stromnetz einspeisen. In der Nacht konsumieren sie Strom. Vom Strom, den die Prosumenten in das Netz einspeisen, profitieren die Nachbarn: Dank Smart Metern und einer App können sie den Strom von nebenan beziehen.
Stromversorger in neuer Rolle
Der Feldversuch im sankt-gallischen Walenstadt wurde erfolgreich abgeschlossen – und wird nun in einem grösseren Massstab und mit angepassten Rahmenbedingungen weitergeführt. WEW ist in das Projekt eingebunden und bezeichnet den «Quartierstrom» als eine Form der Stromversorgung der Zukunft.
WEW stellt die Infrastruktur zur Verfügung und springt mit seinem Strom ein, wenn die Menge aus lokaler Produktion den Bedarf nicht deckt. Die Konsumenten profitieren, indem sie festlegen können, wie viel sie maximal für den Strom bezahlen möchten. Die Prosumenten ihrerseits können mit den Einnahmen aus ihrem verkauften Strom die Photovoltaik-Anlage amortisieren.